Bolzwies-Echo 1/95, 14.5.1995, Artikel 10 von 10 zurück Inhalt
oder: Kann man so gewinnen? Ein Märchen von Marcus Lehmann.
Weltweit herrscht nervöse Betriebsamkeit in den Trainingslagern der Turnier-Teilnehmer. Die letzten Vorbereitungen werden getroffen, Schraubstollen nachgezogen, Stutzen geplättet, Backen und Bälle aufgeblasen. Spielentscheidend wird jedoch die Gruppendynamik sein. Wie bereiten sich die Top-Favoriten mental auf dieses Turnier vor? Wie lauten die neuen, heißen Psycho-Rezepte?
Bundes-Berti Arno K. (Utopie, oder wird man sich wirklich einmal auf einen Teamchef einigen, der die Mannschaft aufstellt, obwohl er den Verein nicht an diesem Turnier angemeldet hat?) hat sich dabei etwas besonderes ausgedacht. Und damit kann er alle Abwehrriegel "knacken". Vorbei die Zeit des behäbigen "Trimm-Dich"; keine Chance mehr für den "Geist vom Heidknüppel" - der FC Bolzwies soll nun auf der neuen sanften Therapieschiene in Richtung Teamgeist sausen: Im Trainingslager werden die Spieler von Märchentherapeuten betreut. Gruppendynamik à la Märchen-man?
Ein Zufall hat Arno K. auf diese Idee gebracht. Der "falsche Ihl", ein Doppelgänger des athletischen Spielmachers, hatte sich in Diskotheken Münchengladbachs immer wieder an Damen herangemacht und so getan, als sei er der Fußballstar. Anbaggern und Heiratsschwindeln waren eins. Um die Illusion noch zu verschärfen, hat der Betrüger sich sogar die Fersen abgehackt. Wie Aschenschnuddels Stiefschwester. Denn Ihl, das weiß man, hat bloß Schuhgröße XXL:
"Diese Nachricht war die Initialzündung. Wir haben dann Kontakt zum Troubadour Märchenzentrum in Vlotho aufgenommen. Das ist ernster als manche glauben", fährt der Bundes-Arno Kritikern übers Maul. "Wir haben uns einen Märchentherapeuten nach Losheim ins Trainingslager kommen lassen, der uns die verwunschene Quelle unserer inneren Kraft erschließt." Vor dem Zu-Bett-Gehen bekommen die Spieler ein Märchen erzählt, jeden Tag ein anderes. Die meisten handeln von Drachen, Technik (Hödde), Feen, Fallrückziehern (Marc P.), Fröschen, Bewegungskoordination (Ewaldo) und Hexen, aber immer läuft es darauf hinaus, daß das Gute gewinnt. "Das gibt uns Power", meint Udo Körper. "Diese Visionen stärken das Urvertrauen - die innere Flöte!"
Jörg Hoffmann und Martin Schädler, gleichfalls umschmeichelt von den heilsamen Klängen jener inneren Flöte, befinden sich "mit dem gestiefelten Kater auf Erfolgskurs", während Fronk Schmidt (den man kleiner, sprechender Haken, der auf der Schulter sitzt, nennen darf) klar Zwerg Nase favorisiert: "Das Märchen hat mir geholfen, mit meinem eigenen Ich zu verschmelzen und auch die verwunschene Spielerfrau in mir zu entdecken." Und mit ihr essen zu gehen.
Für Michael Heißner, Oliver Götze und Michael Martin steht speziell die undurchdringliche Hecke aus "Dornröschen" im Zentrum knallharter Meditation. Der Einsatz von Balou Thiel ist nach einer Verletzung freilich gefährdet. Für ihn hat Arno K. eine besondere Heilungszeremonie ausgetüftelt: Christoph Paulus, Michael Scherer und Peter Penis fassen sich an den Händen, tanzen um Balou herum und singen die neue Hymne (KEINER macht was er soll - JEDER macht was er will - ALLE machen mit). Bei den Worten "ALLE machen mit" bleiben die Spieler stehen, lassen ihre gute Energie kommen und formen mit den Händen einen Sonnen-"Ball". Durch diese Art der Lichtmassage hat Balou Thiel schon eine deutliche Schmerzlinderung erfahren.
Überhaupt kann das Bolzwies-Team dank der neuen Trainingsform weitgehend auf die herkömmliche Medikamentierung verzichten. Bachblüten, 1702 und Pickel-Bier, heilende Steine und das Kräutlein Nießmitlust haben ABC-Pflaster und Cortison ersetzt. Mit dem höheren Bewußtsein kann simultan auch noch die Fitneß gestärkt werden. Das bewiesen Ewaldo und Thomas Heidenreich. Gelenkigkeit und Ballbehandlung haben sich bei beiden Spielern schlagartig verbessert, seit sie Abend für Abend die Mannschaft mit einem neuen Märchen amüsieren, das sie zu zweit in ihrem Fuß-Schattentheater aufführen. Was Normalsterbliche nicht einmal mit den Fingern vollbringen, gelingt Ewald und Hödde mit den Zehen. "Am schwierigsten waren die 7 Geißlein darzustellen, die sich alle woanders vor dem bösen Wolf verstecken", schmunzelt Ewald, ohne jedoch den tieferen Ernst des Märchens hintenanzustellen. "Der dribbelstarke Wolf ist ein Meister der Abseitsfalle. Nur ein Team, das zusammenhält, kann ihn überlisten." Leitwolf Hödde nickt. "Das ist richtig."
Im Schatten eines Mandelbaumes wälzt sich unterdessen Andreas Kirsch. Er hat gerade in einer eigenen Trainingseinheit das Märchen von den zertanzten Fußballschuhen eurythmisch nachgestellt. Das hat ihn umgehauen. Nicht nur körperlich. Nein, auch psychisch. "Es ist eine unheimlich intensive Erfahrung für mich, die eigene Kreativität auf diese Weise feinsensorisch zu erspüren", schnauft der Italien-Heimkehrer und konzentriert sich wieder auf die Erfahrung des Atmens. Ein, aus. Ein, aus. Die richtige Atemtechnik ist das C&A im Powerplay der Turnier-Vorbereitung.
Fragen wir uns nun, ob diese denkbar herbergerfernen Rezepte dem FC Bolzwies den Sieg bescheren werden. Meistermacher Martin Backes hat es mit seiner spontan anberaumten Schmähartikelserie gegen die Märchentherapie ("Weicheier auf Schnupperkurs", "Gelb-Rot für Rotkäppchen!") bereits zu einem bundesweiten Stadionverbot gebracht. Zur Zeit steht jedenfalls fest: Den Spielern gefällt's. Selbst früher so beliebte Freizeitbeschäftigungen wie Video, Floh-Hups, Disco, Kastenschießen, Tipp-Kick, Flippern und "der ganze gemütlichkeits-kapitalistische Hobbyraum-Scheißdreck" (Karl Ranseyer) können als ausrangiert gelten. Alle wollen lieber Märchen hören.
Und die Stimmung ist wunderbar. Volker Kuhn und Jens Schmidt kann man Hand in Hand über die Bolzwies spazieren sehen, wo sie einer Rumpelpilschen-Märchenkassette lauchen. Schmäh und Zank, vormals die steten Begleiter beim Einwechselpoker, sind verbannt. "Hier habe ich gelernt, daß meine Mitmenschen die Spiegel meiner Seele sind", sagt Christian Jung. Ein Statement, das sich bis vor kurzem kaum ein Mitmensch von ihm hätte bieten lassen mögen. "Für uns", meinen die Auswahlspieler, "ist das hier eine Zeit der Schwingungen, des Sich-besser-Kennenlernens, auch als Mensch." - "Es war ein Stück Arbeit, die vom Konkurrenzdenken verhärteten Seelen zu massieren und aus 28 Egoisten eine verschworene Blutsgemeinschaft zu formen", zieht der Teamchef ein erstes Fazit. "Ich sage immer: Laßt uns frei und einzeln sein wie eine Eckfahne, aber brüderlich zusammenstehen wie eine ganze Halle von Eckfahnen".
Mit einem von Fans und Team gemeinsam gestalteten Märchengottesdienst soll die Vorbereitungsphase in Kürze abgeschlossen werden. Der reaktivierte Jörg Ziegler wird in der Predigt über Aschenputtels Abseitsstellung sprechen. Ein Thema, das jeden angeht! Die Kollekte erhält die Initiative "Gemeinsam bringen wir Marco Dittgen das Sprechen bei". Daß die Disziplin der Gurkentruppe auch unter den scheinbar zarten Auswirkungen der Märchentherapie nicht Schaden nimmt, gewährleistet der neue Strafmaßnahmenkatalog. Wer ein Bochum-Trikot trägt (Beate), wird gebraten, wer immer mit der Hacke trickst (Ich?!?), den holen die Raben und wer in der Badewanne den Kicker liest, wird in einem nagelgespickten Sauerkrautfaß vorzeitig unter die Dusche gerollt.
Doch die Märchentherapie weist auch schnippische Tücken auf. Bei einem EWaldlauf gingen Janes und Diegler verloren. Die Brotkrumen, die sie hinter sich gestreut hatten, waren von Vogel Thorsten vertilgt worden. Es heißt, daß die beiden Spieler nunmehr in die Gefangenschaft des Königs Drosselbart gelangt seien. Michael Martin, ausgerüstet mit einem Zauberspiegel und Siebenmeilenstiefeln, ist auf der Suche nach dem betreffenden Königreich. Aber auch im Erfolgsfall dürften Diegler und Janes ihren Trainingsrückstand schwerlich noch aufholen können. Teamchef Arno K. läßt jegliche Spötter abblitzen: "Auch die Mannschaft des FC Bolzwies hat ihre kollektiven Wurzeln in der germanischen Identität." Kantersieg Heil!
Was wird sich Magic Arno noch ausdenken, um sein Team auf Vordermann zu bringen?
Vielleicht heißt es ja später: Blinde können wieder sprechen, Taube wieder sehen, Alkoholiker wieder Kaffee trinken und Thomas Heidenreich endlich mal in die dritte Etage vom Karstadt gelangen!
Grüße vom Märchen-man in spé und glaubt mir ja nicht, daß ich für 'nen Sachsen anhalt'.
Dänk ju!